Faszien und Bindegewebe in der Shiatsu-Praxis

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Faszien und Bindegewebe in der Shiatsu-Praxis

Ende Februar kamen Bill Palmer und Teresa Hadland zum ersten Mal zu ShenDo Süd an den Ammersee. Bill ist der Direktor der „School for Experiential Education“ und er hat das „Movement Shiatsu“ erfunden und entwickelt. Teresa hat lange komplementäre und holistische Therapie an der Universität Derby gelehrt und bringt nun ihre große Erfahrung in gemeinsame Workshops mit Bill ein. Über 20 Teilnehmer hatten sich angemeldet, nur wenige davon hatten schon vorher Workshops mit Bill und Teresa besucht, entsprechend groß war die freudige Spannung. Das erste Mal beeindruckt waren wir, als die beiden nach einer kurzen Vorstellungsrunde schon alle unsere Namen konnten.

Bill, der früher als Physiker gearbeitet hat, hat sein Shiatsu mit dem Blick des Wissenschaftlers entwickelt. In den 1980er Jahren hat er erforscht, wie Babies lernen, Bewegungen einzelner Körperteile zu verbinden. Durch dieses Verbinden entstehen dann ganz neue Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Fähigkeit sich im Liegen umzudrehen, was dem Baby völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Bill erkannte, dass diese Bewegungsmuster in den verschiedenen Entwicklungsstufen des Säuglings den Meridianfamilien folgen. Während wir im Shendo viel mit den fünf Wandlungsphasen bzw. Elementen arbeiten, stehen bei Bill die sechs Energieschichten im Vordergrund. Für das Erlernen des Rollens, also des Umdrehens von Rücken- in die Bauchlage, benutzt das Baby zum Beispiel die Muskeln entlang des dreifachen Erwärmers und des Gallenblasenmeridians, die zusammen das Shao Yang (kleine Yang) bilden. Teresa und Bill hielten uns immer wieder an, die von Bill erläuterten Zusammenhänge auch an uns selbst zu erforschen, daher rollten wir zwischendurch fröhlich glucksend durch den Raum und nahmen die Bedeutung des 4. Fingers (dreifacher Erwärmer!) für die Rollbewegung wahr. Movement Shiatsu sieht also die Meridiane als die Verbindungspfade an, die das Nervensystem nutzt, um Bewegungen zu erlernen.

Zentrales Thema des Workshops waren die Faszien (von lateinisch fascia: Binde, Gebinde), die im deutschen mit Bindegewebe treffend bezeichnet werden. Das Netz der Faszien reicht von der oberflächlichen Faszie (Fascia superficialis), die unter der Haut liegend den Körper wie ein Taucheranzug umhüllt, bis zu den Umhüllungen kleinster Muskelfaserbündel, und auch die Organe sind von einer Faszienschicht umgeben und über die Faszien im Rumpf locker fixiert. Sieht man die verschiedenen Teile und Strukturen des Körpers als eine Gemeinschaft an, wären die Faszien das soziale Netzwerk, das alle miteinander verbindet. Für uns als Shiatsugebende ist vor allem die Fascia superficialis zugänglich. Unsere ersten Übungen hatten daher zum Ziel, die Fascia superficialis mit der richtigen Druckstärke und –tiefe zu erspüren, als elastische Schicht unter der Haut.  Geholfen hat dabei ein Video, das die Lage und umhüllende Struktur der fascia superficialis an toten Menschen zeigte. Die Art der Berührung, die an der oberflächlichen Faszienschicht erstmal Halt macht und die Reaktion abwartet, nennt Bill die Haustür-Berührung: respektvoll wartet man an der Haustür und fällt nicht mit der Tür ins Haus. Umgekehrt müssen die Besuchten auch was tun, nämlich zur Türe kommen und sie öffnen, was hilft sich nicht passiv „retten lassen“ oder als Opfer zu fühlen.  Da über die Faszien alles mit allem verbunden ist, kann die Berührung der Faszienschicht Auswirkungen in anderen Körperbereichen haben, ein Gefühl, das wir alle kennen.

Schließlich ließ uns Bill an den ursprünglichen Bedeutungen von Jitsu und Kyo teilhaben, die sich aus den alten Schriftzeichen ergeben. Das alte Zeichen für Jitsu zeigt ein Haus voll Geld. Das Haus ist das Symbol dessen, wie man sich nach außen zeigt. Beim Haus voll Geld hält das Innere das, was die Fassade verspricht – der Begriff steht also für das was wahr ist. Das alte Zeichen für Kyo hingegen enthält das Symbol für einen Grabhügel, also etwas wo die Wahrheit tief verborgen ist. Bill findet, dass der im Shiatsu oft genutzte Ansatz, das Kyo zu nähren und das Jitsu zu zerstreuen, die harte Arbeit, die das Jitsu im System Körper leistet, nicht genügend anerkennt. Wenn z.B. ein Muskel sehr angespannt ist, drückt Bill seine Anerkennung für dessen Arbeit mit einem gedachten oder gemurmelten „well done – gut gemacht“ aus. Die Einstellung dabei ist nicht, eine Veränderung herbei zu führen, sondern das was ist anzuerkennen – bei chronifizierten Zuständen hat das oft mit einer Schutzfunktion zu tun. Durch diese wertschätzende Berührung, eine weitere Form der von Bill beschriebenen sechs Formen der Berührung, kann es zu einer Lösung kommen –  muss aber nicht, wenn die Jitsu-Funktion noch gebraucht wird.

Als Wissenschaftlerin bin ich sehr beeindruckt von Bills Ansatz, die Wurzeln der tradierten Informationen freizulegen, unnütze Folklore beiseite zu lassen und Zusammenhänge mit neuesten biomedizinischen Erkenntnissen aufzudecken. Bislang lassen sich Bills faszinierende Erkenntnisse nur in einer Handvoll von online verfügbaren Blogs und Interviews nachlesen (www.seed.org), aber ich freue mich sehr auf das Buch,  an dem er gerade arbeitet. Außerdem wird es im Oktober 2020 den nächsten Workshop von Bill und Teresa bei ShenDo Süd geben.

Dr. Anna Friedl ist Zellbiologin an der Universität München, ShenDo Shiatsu-Praktikerin und Yogalehrerin.